die Idee

Seele des Denkens

Posted by Sven Oloff on Mon, Feb 12, 2018
Tags idea

Inhalt

Auftakt
Jahreszeiten
die Idee
hinter der Oberfläche
im sozialen Kontext
Denken

Auftakt

Ich präsentiere mich mit der Fotoreihe „vor den Jahreszeiten“ nicht als Fotograf. Auch steht das einzelne Foto nicht im Vordergrund, sondern die Serie der Bilder. Ursprünglich nicht mit der Absicht der Veröffentlichung entstanden, stießen Anregungen von außen das Projekt einer Fotoausstellung an. Es begann mit den Bildern des späten Winters und ich musste mir zunächst selbst darüber klar werden, was mich eigentlich faszinierte.

Es ist der Moment, bevor die neue Jahreszeit beginnt. In der Musik ist es der kaum sichtbare Auftakt zum Spielbeginn. Eigentlich sogar der Auftakt zum Auftakt. Dem hörbaren Auftakt in der Musik würde hier das erste erscheinende Blatt entsprechen, doch darum geht es hier nicht. Der sogenannte „Vormoment“ ist noch davor, eine Geste, ein Atemholen vor dem ersten Ton. Dieser selbst kaum in Erscheinung tretende Vormoment bestimmt schon das Kommende, bevor es in Erscheinung tritt und trägt dennoch alles in sich. Dem agierenden Musiker auf der einen Seite entspricht hier der passive Beobachter der Natur.

Es liegt nahe sich zu überlegen, ob sich dieses Phänomen durch das ganze Jahr weiter verfolgen lässt. Also nicht die Jahreszeiten typisch zu erfassen, auch nicht die ersten Anzeichen, sondern die Vorahnung – das, was noch nicht da ist. Kann das Werden und Sichverändern der Jahreszeiten ein sinnbildliches Geschehen sein? Wann entsteht ein neues Musikstück, mit dem ersten Ton, noch davor, mit der ersten Melodie, dem ersten Rhythmus? Oder viel früher?

Im Deckblatt scheint sich das ganze Jahr mit allen Farben zu spiegeln. Der Rhein ist das abschließende, räumliche Deckblatt der Bilderserie, hier entstanden fast alle Aufnahmen. Ausgehend von der Bilderserie möchte ich auf plakative Art einigen grundsätzlichen Fragen nachgehen. Ich überzeichne bewusst und verzichte hier auf kleinem Raum auf ausführliche Querverweise und Diskussion. Zitate müssen Andeutungen bleiben.
Lässt sich die Vorahnung für alle Jahreszeiten charakterisieren? Kann der Begriff der Idee zusammenfassend greifen und damit als gedankliches Werkzeug dienen? Welche Aspekte eröffnen sich mit der Idee für Kunst, Gesellschaft und Denken?

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vor den Jahreszeiten

Der Beginn der Bilderreihe ist naheliegend, der Beginn des Jahres. Der Tag vor dem Frühling. Wenn das Licht schon kraftvoll und warm und alles in der Natur noch wie gebleicht ist, scheint es nur eine Frage des Momentes zu sein, dass das erste Blatt erscheint. Der Moment ist markant, ganz gleich, was im Verborgenen geschieht: denn das erste Blatt ist da oder eben nicht.

Weniger augenscheinlich ist der Beginn des Sommers. Wann ist Sommer? Im Übergang zum Sommer ist noch Licht im Wald, bevor sich das Blätterdach schließt. Ein Nebel aus Gras und sich ankündigende Wärme. Kurz darauf schließt sich das Blätterdach und es wird dunkel im Wald. Die Vegetation am Boden zieht sich zurück.

Nach der Lebendigkeit des Frühlings ist im Sommer Ruhe, Lethargie und grün fast bis zum Überdruss. Zum Ende des Sommers wächst der Wunsch nach Dynamik, Farbe und Veränderung. Die zweite Jahreszeit der Veränderung kommt.

Schließlich schwindet das Licht mit der Annäherung des Winters. Der innere Blick richtet sich zugleich zurück und voraus. In der Halbspiegelung des Wassers blickt man zugleich nach vorne und zurück. Beide Perspektiven legen sich wie in einer Doppelbelichtung übereinander.

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die Idee

Es gilt zu erkennen, was noch nicht zu sehen ist. Lässt sich das Unsichtbare fotografieren? Was ist das, was man zu sehen glaubt, aber nicht da ist? Es ist die Idee, wenn man den Begriff in seiner abstrakten und nicht in der alltäglichen Deutung sieht. Wenn die Idee zum Vorschein kommt, wird sie zum Vorhaben, zum Projekt, zur Baustelle. Es ist eine Metamorphose von der Ahnung zum Konkreten, eine Schärfung. Damit stellt sich die Frage, wie das Bild entsteht. Entsteht es vor dem inneren Auge – damit ich es anschließend sehen und festhalten kann. Oder sehe ich zuerst außen und erkenne dann? Die Physiologie beschäftigt sich eingehend mit dem Sehen, der damit verbundenen Erwartung und Wahrnehmung, die Philosophie schon immer.

Das Thema des Sehens und Erkennens durchzieht die ganze Geschichte der Philosophie. Zuerst denkt man an die „Gefangenen der Wahrnehmung“ von Platon in der sinnbildlichen Höhle. Sie sind begrenzt von dem was sie sehen. Auch andere haben sich die Augen gerieben, um nicht zu sagen ausgestochen, um vom Sehen zum Erkennen zu kommen. Ich denke an die Tragödie von Sophokles „Ödipus“. Immer wieder taucht die Auseinandersetzung mit der Idee auf. Nicht zuletzt mit Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“.

Auf den ersten Blick ist die Fotoreihe eine impressionistische Sicht auf die Natur. Ein eher zufälliges Vorbeifahren an ähnlichen oder gleichen Stellen über ein ganzes Jahr hinweg. Man wird nie den selben Wald betreten können! In den Wald gehen mit Heraklit, es muss nicht immer Schwimmen sein… Im Kern ist es das Spiel mit der Vorstellung und Ahnung des Betrachters. Die Idee als essenzieller Teil der Wahrnehmung und treibende Kraft des Denkens wird selbst zum Thema.

Nichts entsteht ohne Idee und ohne Idee entsteht nichts – könnte zumindest für eine Komposition gelten. Darin liegt wohl der Reiz der „Préludes“, der „Vorgesänge“. Sie reichen vom frühen Barock, zum Teil auch improvisierend gespielt, über die Präludien von Bach und den Zyklus der Préludes von Chopin, bis zu jenen von Rachmaninov, Debussy und Schostakowitsch. So verschieden der Hintergrund ist, allen gemeinsam ist der Eröffnungscharakter: die Erschließung des gesamten Tonraumes im wohltemperierten Klavier, die Eröffnung einer Suite, oder das „präludieren“ (Chopin) mit seinem Bezug hin zum improvisierenden Spiel. Das beschreibt die beiden besonderen Eigenheiten der Préludes: Zum einen das Umfassende (wie in den 24 Einzelstücken für die 12 Halbtöne in dur und moll), zum anderen das Freie, Spielerische, Offene in tatsächlicher oder angedeuteter Improvisation. So gesehen, sind die Bilder der hier besprochenen Reihe Préludes der Jahreszeiten. Die Bilderreihe umschließt das ganze Jahr, jedes einzelne Bild lässt sich leicht und spielerisch austauschen.

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hinter der Oberfläche

Ich stelle mir vor, das Foto wäre ein Bild. Ein gemaltes Bild. Dann wäre es antiquiert, zumindest anachronistisch. Wo wären Abstraktion und Verfremdung geblieben? Der ganze Weg in der Kunstgeschichte weg vom Vordergründigen, dem blosen Abbild? Die Bemühungen vom Oberflächlichen zum Hintergründigen zu kommen scheinen linear, doch führt die Abstraktion in eine paradoxe Spirale. Das abstrahierte Bild ist selbst wieder körperlich mit Material, Oberfläche und allen damit verbundenen Assoziationen, es wartet seinerseits auf Abstraktion. Konsequent zu Ende gedacht, ist das abstrahierte Kunstwerk, das alles Gegenständliche hinter sich gelassen hat, letztendlich einfach – weg. Jede Kunst muss neu sein. Doch der Kaiser scheint ratlos in seinen nicht mehr ganz neuen Kleidern. Es gibt kein abstraktes Bildnis, nur das Bild im Kopf ist abstrakt.

Auch die Fotografie betritt (mit Isnogud) die Straße nach Nirgendwo, reichlich Mehrfachbelichtung, Unschärfe, Bewegung, Farbkanäle. Im allgemeinen ist sie jedoch oberflächenaffin, mit noch mehr Prägnanz, Auflösung, Glanz, Tiefe, dem schwärzesten Schwarz. Nur das zählt, was im kleinsten Kristall, im letzten Pixel steckt. Was nicht drin ist, ist auch nicht darunter. Die Malerei hat alle Zeit, die Fotografie hat unzählige Momente. Man sieht sie direkt, den in sich versunkenen Maler, die Brennweite wechselnd und den motorklickenden Fotografen. Das eine malt sich vom Abbild weg, das andere hält fest. Und es ist nicht zufällig, dass die Malerei nach dem perfekten Weiß (Bleiweiß für einen gemalten hauchdünnen, fast transparenten Schleier) suchte, die Fotografie nach dem perfekten Schwarz. „Design ist Oberfläche“ heißt es in der Geschichte des Designs (Selle). Oberfläche ist alles, dahinter ist nichts - Buñuel hat es gewußt.

Niemand macht vom Medium wie Bild oder Ton abhängig, was Kunst ist. Keiner hält das eingesetzte Mittel, wie Pinsel oder Kamera, für entscheidend. Manchen dagegen gilt schon die Technik und Struktur, wie Tonalität und Gegenständlichkeit oder Abstraktion und Verfremdung, als Grundlage der Bewertung. Doch abgesehen vom subjektiven Gefallen gibt allenfalls die Zeit einen annähernd objektiven Hinweis auf die künstlerische Qualität. Ob ein gewagtes Experiment oder ein stilistischer Rückgriff die Kunstgeschichte prägt oder nur einen aktuellen Effekt wirkungsvoll ausnutzt und verwertet bleibt spekulativ. Nur die Zeit zeigt es. Sich die Gegenwart als lange vergangen vorzustellen kann helfen…
Käme heute, mit zeitlichem Abstand, irgend jemand auf den Gedanken die Musik Dave Brubecks wegen der Tonalität seiner Stücke unkreativ zu finden, nur weil er nicht dem Weg der 12-Tonmusik folgte? Die Überwindung der Oberfläche oder der Kult um sie sind Spielarten der Kunst und Stoff der Philosophie, nicht mehr. Der Kunstbegriff selbst - zwischen allem und nichts - ist fragwürdig und es reizt, sich ganz von ihm zu verabschieden. Oder nicht?

Zurück zum Begriff der Idee, der hier im Fokus steht. Das scheinbar sinnlose Unterfangen Kunst zu hinterfragen und zu versuchen, sie zu objektivieren, ist vielleicht nur absurd im Camus’schen Sinn und tatsächlich ein notwendiger Teil des kreativen Prozesses.
Die Idee als kreative Antriebskraft. Es interessiert der „zündende“ Moment, bevor sie Gestalt annimmt. Sie bleibt selbst verborgen und trägt damit das Geheimnis ihres Entstehen in sich. Das Kunstprodukt als Ergebnis bleibt nur ein Verweis auf sein Entstehen. Schließlich auf den Punkt gebracht und öffentlich, beginnt das seinerseits rätselhafte Eigenleben des Kunstwerkes. Idealerweise fächert sich seine Wirkung beim Rezipienten wiederum auf. Ein Ablauf, bildlich wie eine Sanduhr, vom Diffusen zum Konkreten und wieder zum Offenen. Ein qualitatives Merkmal das erklären kann, warum manches Bild nur einmal gesehen werden muss und, weil ohne Zauber, vergessen werden kann. Andere lassen den Betrachter Jahre und Jahrhunderte erstaunen, ohne dass die Wirkung nachlässt. Überraschung und Provokation sind absolut unverzichtbar für die Kunst, ihre Nachahmung ist allerdings widersinnig und völlig witzlos. Die Vieldeutigkeit der Violoncello-Solosuiten von Bach sind das beste Beispiel für anhaltende Inspiration. Auch ein dreiviertel Jahrhundert nach ihrem breiten Bekanntwerden durch Casals ist ihre Interpretation bei weitem nicht erschöpft. Das gleiche Prinzip an anderer Stelle: Warum ist Geigenbau neben aller Handwerklichkeit eine Kunst? Wäre das Ausgangsmaterial homogen und eindeutig definierbar, die idealen Formen feststehend, alles reproduzierbar – das Ergebnis wäre langweilig. Doch jedes gewachsene Holz ist anders, die Bearbeitung auch intuitiv und damit ist offen und im Idealfall vielschichtig, was das Spiel auf dem Instrument hervorbringt.
Die sanduhrförmige Abfolge beschreibt in Form und Symetrie eine der Qualitäten von Kunst und thematisiert sie gesellschaftlich: Von der Idee über die Kunst zur Idee.

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im sozialen Kontext

Am 3. November 1793 wurde Olympe de Gouges in Paris geköpft, weil sie mit ihrer „Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne“ einforderte, aus „droits de l’homme“, den faktischen Männerrechten, „droits de l’homme“, die erklärten Rechte des Menschen zu machen. Nur ein einzelner politischer Mord der aktuellen Obrigkeit? Oder schon ein Fingerzeig auf das massenhafte Sterben zwei Jahrzehnte später, für dessen Opferzahlen zwei Generationen danach eine eigene Statistik- und Darstellungsform erfunden wurde (Charles Joseph Minard)? Auf den ersten Blick hat das eine Verbrechen nichts mit dem anderen zu tun, der eine einzelne Kopf und die Million an Toten. Eine der zentralen Ideen der Aufklärung, die Gleichheit, beim Wort genommen, widerspricht ihr sowohl die Vorherrschaft zwischen den Geschlechtern (ganz im wörtlichen Sinn) ebenso wie die Hegemonie zwischen Ländern. Die Idee der rechtlichen Gleichheit von Menschen und Nationalismus sind logisch miteinander unvereinbar.

Kann eine Idee verraten werden? Verrat an der Idee ist eigentlich der falsche Ausdruck, auch wenn es die gängige Redewendung ist. Mit einem Verrat kommt ans Tageslicht, was verborgen sein will. Einer Idee kann widersprochen, eine konträre Idee entgegengestellt werden, sie kann bekämpft werden. Die Auseinandersetzung zwischen Ideen schadet nicht dem Ideenreichtum – im Gegenteil, das wird Ideen unter Umständen sogar wachsen lassen. Aber darüber hinaus kann dem Prinzip der Idee Gewalt angetan werden. Das kann durchaus als Verbrechen gesehen werden. Ein Verbrechen an einem abstrakten, unsichtbaren Begriff? Ohne direkt sichtbaren Schaden? Die vielen Toten von 1812 wurden, zumindest auf der einen Seite, gezählt und beschrieben. Das Grauen objektiviert. Anders beim Tod von Olympe de Gouges, hier schwingt über den konkreten Mord hinaus etwas anderes mit. Das Verbrechen an der Idee macht sprachlos und ohnmächtig, weil es sich im Abstrakten abspielt. Es ist deswegen nicht unbedeutend, jeder sieht es, jeder fühlt es, aber es ist in seiner Dimension kaum zu benennen.

Die positive, kreative Seite der Idee, aus dem sozialen Zusammenhang nicht wegzudenken, stand im Zusammenhang mit der Kunst im Vordergrund, hier soll vor allem ihre Verletzlichkeit das Thema sein. In jedem kleinen oder großen Unrecht, in jedem Verbrechen, in jeder Gewalttat gehen immer Konkretes und Ideelles Hand in Hand. Dabei interessiert hier die eine, die ideelle Seite, im Kleinen wie im Großen. Wenn ein Gast zum Dieb wird, ist der materielle Schaden das Geringste. Oder im Großen: wenn aus Verfolgten die schlimmsten Verfolger werden ist der ideelle Schaden maximal. Es scheint einen bestimmten Punkt oder ein Maß der Gewalt an Ideen zu geben, der die Idee an sich im Keim ersticken lässt. Und die Geschichte zeigt deutlich, wie eine solche Entmutigung über Generationen zur Erstarrung der gesellschaftlichen Entwicklung führen kann. Wie lässt sich die Ohnmacht dem Unsäglichen gegenüber überwinden, der Hoffnungslosigkeit begegnen? Vielleicht mit einer Fabel, wie bei Orwell.

Idee und Freiheit – untrennbar, aber was hätte in diesen Begriffen noch Platz? Eine Legierung mit sich verändernden Anteilen. Wird es enger um die Freiheit, gewinnt der visionäre Anteil an Bedeutung. Schnell und deutlich schlägt sich der Überlebenswille in der Kunst nieder.
Wenn Freiheit eine notwendige Bedingung für das Entstehen von Ideen ist, so liegt im Umkehrschluss nahe, dass dort, wo es keine Freiheit gibt, sei es durch Repression oder Lähmung, auch ein geringerer Ideenreichtum vorzufinden sein wird. Könnte also die Potenz zur Idee ein Maß für Freiheit sein?
Die begriffliche Bronze aus Idee und Freiheit steht unter einem gewissen Leidensdruck. Sie geht in selbstverständlicher Sattheit ebenso unter wie in Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht. Freiheit definiert sich über Unfreiheit und die Idee entzündet sich am Problem. Und so würde ich Sisyphos gerne fragen, ob es die Idee ist, die ihn antreibt.

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im Denken

Zurück zu den Bildern, mit denen die Überlegungen begannen. Die Verarbeitung visueller Eindrücke nimmt einen großen Teil unserer Hirnrinde ein. Die Forschung erhellt inzwischen sehr gut, warum Sehen und Denken fast das Gleiche ist.
Denken – nur mit den körpereigenen Mitteln der Beobachtung und Wahrnehmung oder im Zusammenspiel mit aufwändiger Technik? Das Nachdenken über das Denken selbst ist dafür das beste Beispiel. Im Blick auf die Psyche trifft antikes, visionäres Nachdenken auf die naturwissenschaftliche Erforschung neuronaler Netzwerke. Auf der einen Seite wird der Weg vom Sehen zum Erkennen philosophisch und psychologisch beschrieben und analysiert, auf der anderen Seite werden die Bahnen systematisch von den Sinneszellen durch die unterschiedlichen Areale der Hirnrinde nachgezeichnet: eine wirkliche Begegnung von Natur- und Geisteswissenschaft. Die bildgebenden Verfahren der Hirnforschung faszinieren. Für die Kraft des Nachdenkens ohne viele Hilfsmittel und die Vorstellungskraft ist es beeindruckend und beispielgebend, wie Eratosthenes mit nur wenigen Hilfsmitteln vor mehr als zwei Jahrtausenden den Erdumfang berechnete und erst mit Satellitentechnik geringfügig korrigiert wurde.
Hat man die Komplexität des Sehens verinnerlicht, ist es nicht mehr nötig, sich ausdrücklich vom scheinbar „bloßen Sehen“ zu distanzieren. Das Sehen ist immer ein komplexer Vorgang: in unterschiedlichen Arealen des Gehirns wird die Räumlichkeit geklärt, das „was“ gesucht, interpretiert und emotional eingebunden. Philosophie und Kunst geben sich reichlich Mühe, um vom Sehen zum Erkennen zu kommen. Doch das einfache Sehen gibt es nicht, also muss es auch nicht überwunden werden.

„Jetzt wird es Frühling!“ Der Moment! Ist es Sehen, Fühlen, Riechen, Erinnern? Wer wollte bestimmen, ob es eine Frage des Wissens oder der Empfindung ist? Die Gewissheit wird über solche Kategorien hinaus eine Mischung sein und sie wird nicht bei jedem Menschen die gleiche sein. Die unsichtbare Vorahnung zu fotografieren, das Entstehen und Weiterleben der künstlerischen Idee zu verfolgen und dem ideellen Aspekt in der Gesellschaft nachzuspüren kommen im Bemühen zusammen, das Unsichtbare darzustellen. Einmal, weil viel Interessantes in den Anfängen liegt und zum anderen, weil sich im scheinbar Nebensächlichen mehr vom Wesentlichen verbirgt, als im Offensichtlichen.
„L’idée vient en parlant“ schreibt Heinrich von Kleist in seinem Brief „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Man könnte seinen Ansatz auch zu „Über die allmähliche Verfertigung der Melodie beim Spielen“ oder „Über die allmähliche Verfertigung des Bildes mit dem Pinselstrich“ erweitern. Die Entstehung ist der interessanteste Teil des Produktes und dabei ist die Experimentierfreude, das Spielerische, das Versuchen und Verwerfen essenziell. Jede Antwort ist zugleich eine Frage und alles Gefundene eine Aufforderung für die weitere Suche.

Der französische Begriff „l’idée“ weist noch einmal deutlich auf die doppelte Bedeutung der Idee hin. Im praktischen, äußeren Sinn ist es der formulierbare Gedanke, etwas, das sich im inspirierenden Bild, in der Formulierung eines Menschenrechtes niederschlägt. Im tiefer liegenden inneren Sinn, wie die Idee im deutschen Sprachgebrauch näher liegt, ist es der erste, noch unbestimmte Beginn des Gedankens. Ihn habe ich mit der Vorahnung bei den Fotografien im Sinn. Bei Kleist schwingt diese Bedeutung mit, wenn beim Sprechen noch nicht klar ist, wohin sich der Gedanke wendet. Um das Entstehen von Ideen zu begünstigen und zu Verstehen, was sie verhindert, müsste zuerst klar sein, was eine Idee eigentlich ist.
Die äußere Bedeutung am Beispiel des Entstehens eines Musikstückes verdeutlicht: Viele kleine Ansätze, Versuche, Entdeckungen, auch Zufälligkeiten, verdichten und entwickeln sich zu einer musikalischen Idee, die schließlich als Produkt ihren Weg in die Öffentlichkeit geht. Ein sanduhrförmiger Verlauf, mathematisch gesagt ein Doppelkegel oder Hyperboloid, von der Verdichtung im Entstehen zur Öffnung auf dem Weg zum Hörer.

Nun eine Idee zur inneren Bedeutung der Idee, inspiriert durch einen physikalischen Prozess: Beim Entstehen von Regentropfen wirken Reaktionskeime mit, an denen die Kondensation startet. Sie sind klein, nicht zu sehen, bewirken jedoch eine schnelle Kettenreaktion. Wie aus dem Nichts entstehen feinste Nebeltröpfchen, die zu Regentropfen anwachsen. Der „zündende Funke“ der Idee ist nicht stofflicher Natur und lässt sich bestimmt nicht regional im Gehirn verorten, könnte aber als funktioneller Reaktionskern eines eigenen, typischen Denkmusters gesehen werden. Das breit angelegte Sammeln von Eindrücken aus allen Bereichen der Wahrnehmung, die auf einen markanten Punkt zulaufen, um dann in einen dynamischen Prozess zu münden. Verdichten und Öffnen: kleine Hyperboloiden mit explosiver Eigendynamik zwischen einem internen Impressionismus und imaginären Expressionismus.
Wenn die Gedanken auftauchen, an die Oberfläche des Denkens gelangen, die nun rational wirkt, ohne es vollständig zu sein, erscheint das Bewusstsein wie eine Spiegelung. Genauer gesagt, wie eine Halbspiegelung. Denn alles was ich sehe, alles was ich denke, ist zugleich eine Reflexion auf mich selbst.
Der See ist ein schönes Bild. Mit seiner spiegelnden Oberfläche, dem Verborgenen und mit der Durchlässigkeit zwischen allen Schichten. See und Seele sind verwandt. Den Gedanken entlang in die Tiefe des Sees geblickt, ist im Innersten die Idee, als die Seele des Denkens.

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